Ohne Erhebung von Daten lässt sich ausgiebig, aber oft auch wenig zielführend über mögliche Zusammenhänge zwischen gegebenen Größen diskutieren und philosophieren. Mit vorhandenen Daten sollten doch alle einer Meinung sein und zum gleichen Schluss kommen – oder?
Nachdem ein deutscher Politiker erfahren hatte, dass im Vorjahr in 60 Prozent der Radunfälle mit Elektrorädern Menschen über 65 verwickelt waren, und der Anteil der beteiligten Senioren bei Unfällen mit normalen Fahrrädern hingegen nur 18 Prozent betrug, kam er zu dem Schluss, dass die Elektro-Fahrräder “gerade für ältere Verkehrsteilnehmer schwerer zu beherrschen sind als herkömmliche Drahtesel”.
Wie diesem Politiker bereitet das Hantieren mit bedingten Wahrscheinlichkeiten vielen Menschen Schwierigkeiten. Wir versuchen hier, im konkreten Beispiel etwas Licht ins Dunkel zu bringen und etwaige Fallen in dieser und ähnlich gelagerten Situationen aufzuzeigen.
Die folgende Tabelle stellt dar, welche Kombinationen zwischen den Variablen Alter und Radtyp prinzipiell bei einem Unfall möglich sind:
Bereits bei dieser einfachen Tabelle muss man aufpassen: Was soll passieren, wenn bei einem Unfall mehrere Radfahrer beteiligt sind? Wenn ein 30-jähriger mit einem normalen Rad mit einem 70-jährigen mit Pedelec zusammenstößt, soll das dann jeweils bei b und c mit einer +1 eingehen?
Schaut man sich die Aussagen des Politikers an, so spricht er von “verwickelt”. Es wurden nur die Prozentzahlen der Menschen über 65 genannt.
Überlegt man ein wenig, gelangt man zu dem Schluss, dass die Summe der Unfälle, in denen Menschen über 65 beteiligt sind und der Unfälle, in denen Menschen unter 65 verwickelt sind, nicht unbedingt der Gesamtanzahl der Unfälle entspricht. Wenn bei jedem Unfall ein 30-jähriger mit einem 70-jährigen zusammenstieße, wären beide Anzahlen jeweils identisch zur Gesamtanzahl der Unfälle. Die Unfallanzahl ist somit bezüglich der Altersbeteiligung nicht additiv.
Versuchen wir, die Statistik aus Sicht einer Person und nicht aus der Sicht eines Unfalls aufzustellen, gilt es eine logische Hürde zu überwinden, dass jemand mit verschiedenen Fahrzeugen unterschiedlich häufig unterwegs gewesen sein und mit jedem einzelnen in einen oder mehrere Unfälle verwickelt worden sein könnte.
Nehmen wir deshalb an dieser Stelle vereinfachend an, dass sich die Aussage des Politikers nur auf alle gemeldeten Unfälle bezog, an denen genau ein Radfahrer beteiligt war (die genaue Quelle zu den Daten, auf die sich der Politiker bezog, war in der Meldung leider nicht angegeben!). Die Aussage ergäbe dann für Elektrofahrräder, dass der Quotient b/(a+b) = 60 % beträgt und der Quotient für normale Räder d/(c+d) = 18 %. Diese empirischen Werte gehören zu den bedingten Wahrscheinlichkeiten P(Alter>=65|Unfall mit Elektrorad) und P(Alter>=65|Unfall mit normalem Rad).
Wenn der Politiker nun aber behauptet, dass Elektro-Fahrräder gerade für ältere Verkehrsteilnehmer schwerer zu beherrschen seien als herkömmliche Drahtesel, so redet er implizit über die bedingte Wahrscheinlichkeit, dass jemand, der über 65 Jahre alt und mit dem Elektrorad unterwegs ist, eher Gefahr läuft (fährt?), einen Unfall zu erleiden, als jemand, der über 65 Jahre alt ist und ein normales Rad benutzt. Das heißt, er redet über die bedingten Wahrscheinlichkeiten P(Unfall|Alter>=65 und Fahrt mit Elektrorad) bzw. P(Unfall|Alter>=65 und Fahrt mit normalem Rad).
Um diese bedingten Wahrscheinlichkeiten schätzen zu können, bräuchte man jedoch die Anzahlen der älteren Radfahrer, die überhaupt mit den Fahrzeugen unterwegs waren, also inklusive der unfallfreien Fahrer. Diese sind aber höchstens aus den Verkaufszahlen der jeweiligen Radtypen zu schätzen, wobei das Alter der Käufer wohl normalerweise nicht erfasst wird. Zusätzlich wären auch die absolvierten Kilometer nützlich, um das Risiko eines Unfalls abschätzen zu können. Sollte die Kilometerleistung bei Senioren mit dem Kauf eines Elektrorades steigen, so ist auch ein Zuwachs der Anzahl der Unfälle anzunehmen.
Die Schlussfolgerung des Politikers ist somit nicht nachzuweisen bzw. konzeptionell falsch. Nehmen wir nun wider besseren Wissens an, dass alle benötigten Anzahlen über Radfahrer vorlägen, also Alter und verwendeter, eindeutiger Radtyp. Jeder Radfahrer sei in maximal einen Unfall verwickelt gewesen. Es ist dann leicht, ein fiktives Beispiel zu konstruieren, bei dem die genannten 60- und 18-Prozentanteile für Senioren zu beobachten sind, aber dennoch die Unfallgefährdung bei Elektrorädern geringer ist:
Hier weisen bei den Elektrorädern 60 von 100 Unfällen eine Seniorenbeteiligung auf, also 60 Prozent. Bei normalen Rädern sind es 720 von 4000 und somit 18 Prozent, wie vom Politiker behauptet. Die Unfallquote betrug für Senioren, die mit dem Elektrorad unterwegs waren, 60 von 80060, also 0.75 Promille. Bei normalen Rädern wären es hier jedoch 720 von 800720 = 0.90 Promille und somit wäre hier eine erhöhte Unfallgefährdung vorhanden und nicht bei den Elektrorädern.
Weiterhin ist ersichtlich, dass die Anzahlen der “jungen” Radfahrer für die Berechnung der Unfallquoten der Senioren vollkommen unerheblich sind und in Gedanken gestrichen werden können.
Natürlich könnte der Politiker insofern recht haben, dass Senioren tatsächlich auf dem Elektrorad eine höhere Gefährdung aufweisen, nur hat die Berechnung der Unfallquoten nichts mit den von ihm genannten Prozentzahlen zu tun.
Wir versuchen nun, die Gefährdung auf dem Rad leichter fassbar zu machen.
Sei x die Anzahl der unfallfreien Senioren mit Elektrorad und y die Anzahl der unfallfreien Senioren mit normalem Rad. Die Unfallquote der ersten Gruppe berechnet sich zu 60/(x+60), die der zweiten Gruppe zu 720/(y+720). Es lässt sich durch einfache Umformungen zeigen, dass die Unfallquote der Senioren in der Elektroradgruppe genau dann kleiner ist als die Quote in der “normalen” Gruppe, wenn
gilt. Was heißt dies? Der erste Quotient in der letzten Zeile dieser Formel ist der Anteil der Elektroradunfälle für Senioren, der letzte Quotient der Anteil der Senioren, die überhaupt mit dem Elektrorad unterwegs sind. Ist der Anteil an den Unfällen kleiner als der Anteil der Benutzer, so besteht auf dem Elektrorad die geringere Gefährdung.
Von einer erhöhten Gefährdung von Senioren auf dem Elektrorad zu sprechen, wäre also nur dann statthaft, wenn der Anteil (nur auf der Menge der Senioren berechnet!) der Unfälle auf dem Elektrorad höher wäre als der Anteil der Senioren, die das Elektrorad benutzen. Diese Erkenntnis klingt in der Nachbetrachtung vollkommen logisch und hätte allein über den gesunden Menschenverstand hergeleitet werden können.
Weiterhin wäre es noch möglich, falls bekannt, die Kilometerleistung der Senioren zu berücksichtigen: Ist für Senioren der Anteil der Elektroradunfälle kleiner als der Anteil der auf dem Elektrorad zurückgelegten Gesamtkilometer aller Senioren, so ist die Fahrt auf dem Elektrorad weniger gefährlich.