Manche Diagramme brauchen mehr als 1000 Worte. Und sieben Worte können einem Diagramm haushoch überlegen sein. Heute machen wir dem Mythos, Diagramme seien Bilder und wären echte Quasselstrippen, endgültig den Garaus.
Vor kurzem saß ich ziemlich lange vor einem ziemlich einfachen Diagramm. Es zeigt, dass Venture-Capital-Gesellschaften einen geringeren Teil ihres Geldes in IT-Start-ups investieren. Genauer gesagt: der Anteil fiel in den Jahren von 2005 bis 2010 von knapp 60 % auf etwas unter 40 %.
Das Diagramm ist asketisch beschriftet. Ich musste die Werte erraten. Um herauszufinden, ob der aktuelle Rückgang nochmals so stark ist wie anfangs, hätte ich Lineal und Taschenrechner gebraucht. Das ließ ich sein.
Paradox: Wenn es darum geht, uns zu informieren, enthält das Diagramm links oben zu viele und nicht zu wenige Daten. Eine gute Überschrift hätte es ersetzen können. Quelle: Wall Street Journal Europe, 25.10.2010, S. 15.
Ich machte mir Gedanken, wie genau man es wissen will und ob es redundant wäre, in der Überschrift zu sagen, was man darin sieht. Hätte es etwas gebracht, die Säulen mit Werten zu beschriften? Wäre ein Satz besser gewesen? Dieser etwa: „VCs investieren seit 2005 immer weniger in IT-Start-ups“?
Ich machte mich auf die Suche nach Überschriften und lernte: Sprache kann sehr effizient darin sein, mit Informationen umzugehen, die auf Zahlen beruhen. Besonders gut darin ist das Wall Street Journal. Der Satz “Australian dollar reaches a 28-year high” (1) bringt auf den Punkt, was eine lange Reihe von Notierungen in einem Diagramm bei kundiger Auswahl des Zeitraums uns sagen könnte, und er benötigt dafür nur wenig von dem kostbaren Raum innerhalb unserer Augenspanne.
Manche Sätze sind so präzise und glaubwürdig, dass sie Darstellung und Beweisführung mithilfe eines Diagramms nicht vermissen lassen.
Gar nicht erst mit Zahlen zu vermitteln ist Konnotation. Die Schlagzeile “Apple’s iPad opens new frontier, may challenge primacy of laptops” (2) ist ein Gänsehaut-Satz. Selbst die internen Umsatzreihen von Apple würden nicht sagen, was dieser Satz sagt. Sollten die PC-Hersteller ähnlich denken, dann kann man sich vorstellen, wie die nächsten Jahre um die Vorherrschaft auf dem PC-Tablet-Markt gerungen werden wird. Die Vorstellungen, die durch die Konnotation der Worte „new frontier“, „challenge“ und „primacy“ ausgedrückt wird, illustrieren diese Vorstellung nuancenreich und bildstark. Auch Prognosezahlen würde die Wucht fehlen, die die Vorstellung einer Substitution eines eingeschwungenen Marktes durch eine zunächst erfolglose und dann spielerisch neu platzierte Technologie erzeugt.
Andere Sätze haben eine so starke Konnotation, dass sie nicht einmal Zahlen vermissen lassen. Quelle: Wall Street Journal Europe, 01.04.2010, S. 1.
Umgekehrt funktioniert Sprache auch. Manipulation entlarvt sich in Sprache schneller als in Diagrammen oder Tabellen. Sätze wie „Der Weizenpreis ist explodiert“ oder „Zocker treiben die Weizenpreise“ verraten, dass hier nicht informiert, sondern interpretiert wird. Sätze wie „Euro hits 8-month low” (3) und “Santander profit up 13%” (4) hingegen sind integer. Wir vermissen das Diagramm dazu nicht.
Fazit: Wir lesen schneller, als wir die Abstraktion vieler Diagramme verstehen. Sprache liefert Konnotation, Zahlen und Zahlworte sind bereits integraler Bestandteil von Sprache. All das stellt Sprache in den Wettbewerb mit Diagrammen. Fallweise haben wir zu entscheiden, was unsere Botschaft schneller übermittelt.
Zitierte Überschriften aus dem Wall Street Journal Europe: (1) 15.10.2010, S. 4; (2) 01.04.2010, S. 1; (3) 05.02.2010, S. 23; (4) ebenda, S. 19.
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