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Piraten und Pilze

Gutes Design bricht mitunter Regeln. Symbole meistens und Kreise fast immer zu meiden, sind zwei davon. Heute zwei Ausnahmen mit überraschenden Aspekten im Detail.

Eine der Quellen dieses Blogs sind Diagramme, die mir als Zeitungsleser begegnen. Über den beiden in diesem Artikel habe ich länger gebrütet. Beide ziehen den Blick an. Beide scheinen gleich mehrere Regeln der Diagramm­gestaltung zu verletzen. Beide setzen sich dem Verdacht aus, sie wären mehr Dekoration als Information.

Im Fall der Piratendaten fragte ich mich: Warum soll man die Schiffe per Hand auszählen? Ist Blau die richtige Farbe für ein entführtes oder ausgeraubtes Schiff? Wie viele Schiffe fahren unbehelligt? Wären das nicht (ausnahmsweise) Daten für eine Landkarte?

Troubled waters: Attacks on ships in the first half of 2010, by region. - Quelle: Wall Street Journal, 17.08.2010, S. 3.
Piratenangriffe auf Schiffe nach Regionen, erstes Halbjahr 2010. Blaues Schiff: Überfall/Entführung. Grünes Schiff: fehlgeschlagener Angriff. Quelle: Wall Street Journal, 17.08.2010, S. 3.

Die Pilze in der Financial Times machten es mir noch schwerer: Wieso läuft die Zeit zweizeilig? Sind Kreise nicht schlimm genug, müssen es jetzt gespiegelte Halbkreise sein? Warum soll ich mir die prozentualen Anteile selber ausrech­nen (abschätzen kann ich sie beim besten Willen nicht)? Warum sind alle Schuldner rot, die europäischen aber grün?

Cheap dollar debt: Yankee bond issuance. - Quelle: Financial Times, 23.08.2010, S. 13.
Emission von US-Dollar-Anleihen in den USA durch ausländische Schuldner. Roter Pilz: alle Schuldner. Grüner Pilz: europäische Schuldner. Quelle: Financial Times, 23.08.2010, S. 13.

Trotzdem mochte ich beide Darstellungen von Anfang an. Die Piraten mehr als die Pilze, aber je länger ich sie betrachtete, desto sympathischer fand ich auch sie.

Im Fall der Schiffszählung kam ich schneller dahinter: Jedes Schiffssymbol steht für ein echtes in Not geratenes Schiff. Zum einen erinnert das an unsere Idee von „Ein Männlein, ein Mensch“. Zum zweiten umfassen die Daten nur das erste Halbjahr 2010. Und in diesen sechs Monaten wurde im Durchschnitt jeden Tag ein Schiff auf den Weltmeeren angegriffen. Ich finde die Vorstel­lung, auf offener See Piraten zu begegnen, sehr dramatisch und meine, dass hier gilt: Dramatische Ereignisse, die sich zählen lassen, verdienen ein Symbol je Ereignis. Auf eine Weltkarte hätte das schwerlich gepasst. Auf das exakte, sofort erkennbare Verhältnis zwischen erfolglosen und erfolgreichen Angriffen kommt es nicht an. Die Farbwahl zu kritisieren oder die Symbole wäre eine Beckmesserei, die angesichts von Enterhaken, Macheten, Kalaschnikows und Raketen irgendwie fehl am Platz erscheint.

Die Pilze sind schwieriger und für ein Loblied taugen sie nicht. Aber: Wer ein wenig genauer hinsieht, muss nicht mühsam und wenig erfolgreich Flächen vergleichen. Da die Halbkreise gespiegelt und zentriert sind, stehen sich die Radien der Halbkreise gegenüber. Das macht es immerhin möglich, die Entwicklung der Reihen halbwegs zu erkennen und auch die Anteile von europäischen Emissionen an allen Emissionen bleiben nicht völlig im Dunkeln. Außerdem dominieren ohnehin die gut ablesbaren Zahlen.

Beiden Grafiken gemeinsam ist eine Eigenschaft, die wir noch nicht in eine Regel gefasst haben. Weder die Daten der einen noch der anderen Grafik taugen zur weiteren Analyse. Die Ursachen sowohl der modernen Piraterie als auch die Zusammenhänge an den Finanzmärkten sind viel zu komplex, als dass wir sie in Diagrammen sehen wollen, die uns glauben lassen, die Sache ließe sich so einfach betrachten wie zeichnen. Diese Unbestimmtheit und Unentschiedenheit steht den Diagrammen gut. Sie spiegeln Phänomene und deuten Tendenzen an und sagen vor allem auch: „Trau mir nicht zu sehr, lies den Text um mich herum, ich kann die Sache nicht wirklich erklären.“ Wiederum in beiden Fällen lohnt sich ebendiese Lektüre.

Also: Weichzeichnen erlaubt.

Nicolas Bissantz

Diagramme im Management

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