Wirksame Berichte erregen erst Aufmerksamkeit und führen dann schrittweise zu Verständnis. Eine anspruchsvolle Aufgabe, weil ihr „Change Blindness“ im Weg steht: In das eine vertieft, übersieht man das andere. Über die Tücken der Aufmerksamkeit – Teil II unserer Serie zum Neurocontrolling.
Am Montag dieser Woche grübelte ich mit einem Kollegen aus unserer Forschungsabteilung, wie wir ein bestehendes Verfahren attraktiver gestalten könnten. Das Verfahren leitet automatisch zu den Verursachern von Plan-Ist-Abweichungen; geübte Anwender lieben diese Methode. Wir wünschten uns aber noch weniger Erklärungsbedarf für dieses nützliche Verfahren: Auch ungeübte Anwender sollen den Sinn mit einem Blick erkennen und verstehen, warum der vom System vorgeschlagene Weg plausibel ist. Gemeinsam mit dem Kollegen ging ich diverse Designs durch. Einmal mehr spürten wir ein vertrautes Dilemma: Aufmerksamkeit braucht einen Knalleffekt, Verständnis braucht Zwischentöne. Das auf den ersten Blick attraktivste Design war auf den zweiten Blick inhaltlich zu grob. Wir suchen weiter.
Boden-Projektion von Kennzahlen in unserem Büro in Nürnberg: Drama und Detail halten sich die Waage. Die Projektion zu übersehen, ist schwierig; hinsehen ist dann schon verstehen.
Wenn sich die Information uns vor die Füße wirft
Ein erstrebter subtiler Knalleffekt in eigener Sache war uns einige Wochen zuvor geglückt: Vor diversen Büros unseres Unternehmens wollten wir KPI in Szene setzen, die uns am Herzen liegen und an denen wir unsere Leistung ausrichten. Zwischen den Release-Wechseln gilt es, eine bestimmte Anzahl Korrekturen, Erweiterungen und Neuerungen in der Software zu realisieren („CRs“, „Change Requests“). Wie weit das nächste Release entfernt ist, wissen alle. Die schiere Anzahl erledigter CRs ist bei uns ein starker Indikator. Ähnliches gilt für die Anzahl offener Supportfälle. Beide Kennzahlen projizieren wir auf den Gang zwischen den beiden betroffenen Abteilungen. Das ist ebenso dramatisch wie verbindlich, die Transparenz spornt an und belohnt, Controlling ist in den Prozess integriert und mit Füßen zu treten, pardon, mit Händen zu greifen.
Sehen ist vor allem übersehen: Change Blindness
Warum sind subtile Knalleffekte, die Verbindung von Drama und Detail, das Führen von Aufmerksamkeit eine so anspruchsvolle Aufgabe? Nach allem, was man weiß, ist der Mensch nicht besonders gut darin, Veränderungen zu erkennen*. Man sieht etwas an, sieht es wieder an und übersieht dennoch eine Veränderung, auch eine größere. Das gilt nicht nur nach dem Friseurbesuch der Angebeteten, sondern ganz allgemein. Schlimmer noch, ohne Aufmerksamkeit auf eine Sache sehen wir sie gar nicht („inattentional blindness“)! Insgesamt ist die kognitive Blindheit so umfassend, dass nur wahrgenommen wird, was auch mit größter Aufmerksamkeit betrachtet wird! Das ist auch ein Thema auf unserem Forum am 19. März in Frankfurt und wir werden die kognitive Blindheit anhand eines amüsanten Experiments veranschaulichen.
Dieser Befund ist umso wichtiger, je mehr gedankliche Schritte nötig sind, um etwas zu verstehen. Jeder weiß aus eigener Erfahrung: Je länger eine Sequenz, desto mehr leidet die Aufmerksamkeit, desto verlockender sind Ablenkungen. Das spräche für wenige große Schritte. Aber: Je größer die gedanklichen Sprünge, desto eher geht der Zusammenhang verloren. Die Veränderung zwischen den Schritten ist dann zu groß, sie wird nicht als Veränderung des vorherigen Zustands erkannt und schlichtweg übersehen.
Hyperbrowser in DeltaMaster: Der Übergang von einem Zustand des Baums zum anderen ist fließend. Das ist ein gutes Mittel gegen das Übersehen von Veränderungen (Change Blindness).
Zoomen: Veränderungen als Kontinuum visualisieren
Das betrifft einen Bericht, ein „Dashboard“ oder eine Berichtsfolge ebenso wie interaktive Werkzeuge. Berichte profitieren von einer Lesefolge, die exakt den nötigen gedanklichen Schritten entspricht. Dashboards leiden, wenn benachbart steht, was keinen inneren Zusammenhang hat. Interaktive Werkzeuge brauchen ein günstiges Verhältnis von Benutzerinteraktion und Veränderung. Ist es zu klein, ermüdet der Anwender, ist es zu groß, „erblindet“ er. Hyperbrowser, Semantischer Zoom und Pivot-Navigation sind so konstruiert, dass die vom Anwender ausgelöste Veränderung je Schritt fließend erlebt wird. De facto sind die Zustände disjunkt, im Gehirn aber wird das Vorher/Nachher zu einer Folge verknüpft. Das macht die Veränderung sichtbar. Vergleichbar ist das mit dem Auftrag von Farbe: Handbewegung und sichtbare Veränderung am Objekt sind eins.
Wenn wir die Information vor Augen führen
Inzwischen hatte mir der Kollege aus der Forschungsabteilung neue Entwürfe geschickt – per E-Mail. Dennoch kam er kurz darauf zu mir – um die Entwürfe persönlich zu präsentieren. Anscheinend fürchtete er eine „inattentional blindness“ meinerseits gegenüber seiner E-Mail. Oder er fürchtete eine Change Blindness, wenn er mich dem Selbststudium der Entwürfe überließe. Zu den Tücken der Aufmerksamkeit gehört eben auch: Bedeutung kann nicht beliebig einfach gezeigt werden. Das Arbeitsgedächtnis arbeitet sequenziell, tiefes Verständnis entsteht ebenfalls sequenziell. Also kommt es auf Lesefolgen an, und die kann ein statischer Bericht fördern, aber nicht erzwingen.
Gegen Change Blindness braucht das Controlling:
Notation, Interaktion, Präsentation
Insgesamt zeigt das Phänomen der Change Blindness: Nach den Erfolgen bei der Notation müssen wir uns wieder der Interaktion zuwenden. Das Berichtsdesign wird immer ausgefuchster und gleichzeitig standardisierbar. Die statischen Berichte sind damit über die Unternehmen hinweg besser geworden. (Darüber wollen wir ebenfalls auf unserem Forum berichten.) Längere, kluge Gedankenfolgen brauchen aber die Interaktion. Fürs Selbststudium kann Software Lesefolgen automatisch entwickeln. In der Präsentation wiederum kann das Controlling dieselben Instrumente nutzen, um das Publikum Schritt für Schritt zu tieferem Verständnis zu führen.
* Quelle: Daniel J. Simons und Christopher F. Chabris, Gorillas in our midst: sustained inattentional blindness for dynamic events, Perception, Vol. 28 (1999), S. 1059-1074.