Ohne Professor Peter Mertens, den Mitbegründer der deutschen Wirtschaftsinformatik, ist unsere Erfolgsgeschichte nicht vorstellbar. Die Forschungsarbeiten an den von ihm geleiteten Instituten waren Grundlage der Unternehmensgründung. Die von ihm vorgelebte Denk- und Arbeitskultur prägt uns bis heute.
Professor Peter Mertens ist mein Doktorvater und der weiterer Kollegen: Unser Kommunikationsleiter Gerald Butterwegge, IT-Leiter Jochen Speyerer und unser langjähriger kaufmännischer Leiter Marc Rössel haben bei Mertens promoviert. Mein Mitgesellschafter, unser Consultingleiter Michael Westphal, und Guido Schrage, genialer Entwickler der ersten Stunde, waren Studien- und Diplomarbeiter in meinem Promotionsprojekt „BETREX II“, das ich gemeinsam mit Jürgen Hagedorn, heute bei SAP, verantwortete. Roland Zimmermann, heute Professor an der TH Nürnberg, der unter anderem unser Partnermanagement aufbaute, promovierte am Nachbarlehrstuhl von Professor Freimut Bodendorf, seinerseits ein Mertens-Schüler.
Nach Abschluss der Forschung am Lehrstuhl stellte ich mir die Frage: Wohin mit den Ergebnissen? Das Konzept des universitären Prototyps hatte viel Anklang in der Praxis gefunden, bis zu Marktreife und einem stabilen Einsatz unter Praxisbedingungen war der Weg freilich noch weit. Der Prototyp war auf die Verarbeitung von 40.000 Datensätzen beschränkt, die zugrunde liegende Software und das Betriebssystem bremsten zusätzlich. Die aufkommende OLAP-Datenbanktechnologie und die Portierung auf ein anderes Betriebssystem könnte den raffinierten Algorithmen die nötige Rechenleistung liefern.
Ich wagte den Sprung ins Ungewisse. Peter Mertens ebnete den Weg: Als einer der ersten Teilnehmer des Flügge-Projekts konnte ich mich zur Hälfte der Gründung widmen, in der anderen Hälfte sorgten Aufgaben an der Universität für das Auskommen meiner jungen Familie. Schon die erste professionelle Version unserer Software gewann den Preis „Best of Byte“ auf der Systems 1997 in München und die Auszeichnung „Beste Software des Jahres“ in Frankreich.
Bis heute diskutieren wir neue Ideen und Innovationen mit Professor Mertens und es hat mehr als eine Weiterentwicklung beflügelt, wenn wir sein Placet bekommen, zuletzt bei der typografischen Skalierung von Zahlen. Seit 2018 sind wir Sponsor eines Hörsaals an unserer Alma Mater, wo Peter Mertens auch Jahre nach seiner Emeritierung beinahe täglich in seinem Büro anzutreffen ist. Dort haben wir jüngst ein Interview aufgezeichnet – oben der Film, hier zusätzlich in Textform. Das Gespräch führte Frank Kretschmann.
Lieber Herr Professor Mertens, haben Sie zu Beginn ein paar Worte für uns zu Ihrem Lebensweg?
Ich bin 1937 geboren als Kriegskind mit allen Schwierigkeiten, die man damals hatte, bis hin zu Grausamkeiten. Aufgewachsen bin ich in Saarbrücken, studierte dann an der Technischen Hochschule Darmstadt Wirtschaftsingenieurwesen – damals ein neuer und nicht unumstrittener Studiengang. In Darmstadt habe ich auch promoviert und bin dann an die Technische Hochschule München gegangen. Dort musste ich mithelfen beim Aufbau eines Studiengangs für Wirtschaftsingenieurwesen, habe habilitiert und bin dann in die Praxis gewechselt zu einer Schweizer Unternehmensberatung, die ausgesprochene Pionier-Projekte durchführte: die ersten größeren integrierten Systeme der Datenverarbeitung. Nach drei Jahren machte ich einen kurzen Abstecher zum Massachusetts Institute of Technology, wo es mir sehr gut gefallen hat und wo ich auch gerne länger geblieben wäre. Aber nach drei Monaten erreichte mich als junger Mensch – ich war gerade 30 – der Ruf an die damals neu gegründete Universität Linz. Dort blieb ich drei Jahre. Seit 1970 bin ich hier an der Universität Erlangen-Nürnberg und seit 2005 emeritiert – scheinbar. In Wirklichkeit bin ich noch fast jeden Tag hier.
Sie gelten als Mitbegründer der deutschen Wirtschaftsinformatik. Was war Ihr Erfolgsrezept?
Ich glaube, dass wir mehr als andere gefragt haben: Was braucht die betriebliche Praxis? Und das, was wir getan haben – an Forschung, Diplomarbeiten, Doktorarbeiten – haben wir sehr stark darauf ausgerichtet. Man sagt ja, Innovationen seien dann erfolgreich, wenn ein Bedarfssog von der Gesellschaft, von der Wirtschaft, vom Markt, von den Unternehmen her da ist und gleichzeitig ein Technologiedruck. Wir haben jetzt leistungsfähigere Computer – was können wir uns dann leisten?
Inzwischen gibt es allein in Nürnberg sechs Wirtschaftsinformatik-Lehrstühle, jeder mit einem eigenen Schwerpunkt. Warum braucht es diese Differenzierung?
Differenzierung ist der Gang der Dinge in allen Fächern, in der Medizin genauso wie beispielsweise in der Physik, in der Geschichtswissenschaft und so weiter. Keiner kann heute mit dem großen Wissenskörper, der sich entwickelt hat, über Jahrhunderte alles wissen.
In einem Aufsatz haben Sie einmal gesagt, die Firma Bissantz entspräche „den Idealvorstellungen einer Unternehmensgründung durch Hochschulassistenten“. Was macht die Firma Bissantz weitestgehend ideal?
Die Firma Bissantz ist naturgemäß sehr stark von ihrem Gründer Nicolas Bissantz geprägt. Und der ist ideal insofern, als dass er sehr stark den Kontakt zur Hochschule hält. Und beide profitieren davon. Ich glaube, das ist ein Teil des Erfolges von Bissantz.
Bissantz hat mit seiner Ausgründung die interdisziplinäre Forschung, die er bei Ihnen angefangen hatte, fortgesetzt und tut das bis heute, zum Beispiel mit der Integration von neurowissenschaftlichen Erkenntnissen. Ist auch das Teil seines Erfolgsrezepts?
Seine Fähigkeit zum interdisziplinären Denken und wohl auch seine breite Ausbildung als Wirtschaftsinformatiker haben hier geholfen, denn bei dem, was er tut und womit er erfolgreich ist, braucht man Kenntnisse der Betriebswirtschaft, der Informatik, der Mathematik und der mathematischen Statistik. Und das hat so schnell keiner drauf. Durch das Projekt, das er dann im Rahmen seiner Doktorarbeit durchgeführt hat, ist er in dieses Grenzgebiet hineingekommen und hat gemerkt: Die Lücke ist dort, wo Betriebswirtschaft, Mathematik, Statistik und Informatik aufeinanderstoßen.
Sie waren Mitinitiator des Flügge-Programms, mit dem Ausgründungen erleichtert werden sollten. Worin bestand diese Erleichterung?
„Flügge“ ist ein Akronym für „flexibler Übergang in eine Gründerexistenz“. Es ist nicht eine gewöhnliche Subvention für die Gründer aus dem Staatshaushalt heraus, sondern ein do ut des: du bekommst etwas und musst etwas zurückgeben. Zurückgeben muss der Gründer an die Universität zum Beispiel Diplomarbeiten, die er betreut, oder Praktikumsplätze, Exkursionen, Betriebsbesichtigungen.
Das Forschungsprojekt von Bissantz/Hagedorn hieß BETREX II. Davor gab es BETREX I. Sie haben damit „kumulierte Forschung“ betrieben. War das eine Besonderheit ihres Lehrstuhls?
Ja, das kam damals auf unter dem Begriff Data Mining in den USA. Der Unterschied war der: Wenn Sie neugierig sind und einen neuen Begriff hören, googeln Sie diesen. Dann wissen Sie aber genau, was Sie wollen, Sie möchten wissen, was bedeutet denn dieser oder jener neue Begriff. Data Mining ist umgekehrt. Man schickt gewissermaßen ein paar Pioniere, Bergleute, Archäologen oder Höhlenforscher in eine Höhle oder Grabstätte und sagt: „Guckt mal, ob ihr etwas Interessantes findet.“
Bissantz erzählt gerne, Sie hätten in Ihrer Zeit als Berater die automatisierte mehrdimensionale Analyse betriebswirtschaftlicher Daten schon im Lochkarten-Zeitalter und händisch vorweggenommen. Wie finden Sie die Vorstellung, dass das jetzt alles auf einem Handy geht?
Es ging damals um ein Unternehmen der Textilindustrie in Deutschland. Man engagierte Unternehmensberater, in diesem Fall mich, um herauszufinden, wo denn wirklich die Gewinne entstehen. Und dann habe ich das getan, was man damals üblicherweise schon lehrte: Nimm alle Aufträge oder Auslieferungen und sortiere sie nach dem Verkaufsort, der Stadt, dem Bezirk, dem Bundesland, dem Staat, dem Kontinent. Ich erkannte, dass aus der Artikelnummer auch die Farbe ablesbar war, und habe das Ganze mit Umsortieren meiner Lochkarten mitten in der Nacht in meinem Keller neugestaltet und damit herausgefunden: Ob Damenbluse oder Damenpullover oder Damenrock und so weiter – immer gewann eine damals neu begründete Farbe. Und ich konnte der Unternehmensleitung sagen, verkürzt: „Egal was ihr tut, es muss diese neue Farbe haben, dann gewinnt ihr!“
Das war aber mit x-mal nächtelangem Sortieren dicker Lochkarten-Stapel verbunden. Das ginge heute sehr, sehr viel schneller: im kühnsten Fall mit sogenannten Künstlichen Neuronalen Netzen. Man würde also als Hersteller dieser Textilien, verkürzt gesagt, dem System alle Aufträge geben und sagen: „Guck mal nach, ob du irgendetwas Besonderes findest.“ Dann würde das System im Idealfall herausfinden, dass diese neue Farbe ein Gewinner ist.
Bissantz gewann als bisher einziger Unternehmer den Innovationspreis der GI (Gesellschaft für Informatik). Mit Forschung Industriekunden und Wissenschaftspreise zu gewinnen – wäre das das Ideal von moderner Hochschulpolitik?
Er sollte der Gesellschaft für Informatik Anlass zum Nachdenken geben: Was haben wir falsch gemacht in unseren Auswahlgremien, dass Bissantz der einzige von diesem Typ ist? Das heißt, wenn die Kandidaten präsentiert werden aus den verschiedenen Untergruppierungen dieser riesigen Gesellschaft, dann denkt auch an Praktiker.
Der Leistungsanspruch Ihres Lehrstuhls und die Durchfallquoten sind legendär. Die Firma Hemmersbach sucht Mitarbeiter mit dem Satz „Wenn du jemals eine Prüfung bei Professor Peter Mertens bestanden hast, bewirb dich bei uns“.
Das war eine nicht unumstrittene Sache. Als Hemmersbach an mich herantrat, man wolle ein großes Plakat im Ankunftsbereich am Flughafen aufhängen, habe ich ausdrücklich den Präsidenten der Universität gefragt. Der sagte, er finde das gut. Dann entstand dieses große Plakat und das ging mir natürlich in Nürnberg überall nach. Wer mich kannte und am Flughafen gelandet war, der schmierte mir das aufs Brot.
Bissantz kam zur Wirtschaftsinformatik (und zum Marketing), weil es Zugangsvoraussetzungen gab und er die Massenvorlesungen meiden wollte. Wie wichtig ist Elitebildung?
Elitebildung ist sehr wichtig, weil sie Anreize setzt. Wenn wir zum Beispiel an den Fußball denken, da will nach Möglichkeit jeder eine Klasse höher spielen. Keiner will in eine niedrigere Klasse absteigen. Deshalb muss man Eliten herausheben und sagen: „Vielleicht habt ihr auch eine Chance. Guckt mal, wo eure Potenziale sind, und wenn sie da sind, dann strengt euch an.“ Nur die Kriterien der Auswahl und des Aufstiegs müssen fair sein.
Bissantz sagt, er beschreitet den Weg des Geistes, und möchte jungen Menschen Mut machen, gründlich und mit langem Atem ein Feld zu beackern – in einer Zeit, die vom schnellen Wandel geprägt zu sein scheint. Wozu würden Sie jungen Menschen Mut machen?
Ich würde sie daran erinnern, wenn sie zum Beispiel Nachwuchsunternehmer werden wollen oder ein Unternehmen gründen oder sonst irgendeine Laufbahn einschlagen wollen: Unsere Chance in Deutschland ist die Gründlichkeit, möglichst Perfektion. Wir haben keine Chance in unserem Staat mit den chinesischen Arbeitszeiten, mit den Niedriglöhnen in Asien und auch mit verschiedenen Vorteilen, die die Amerikaner haben. Verteidigen wir das „Made in Germany“.
Bissantz sagt, Algorithmen bekommen irgendwann etwas Selbstverliebtes, die Informatik vernachlässige zu häufig die Grenzen menschlicher Möglichkeiten des Sehens und Verstehens und müsse den Menschen besser kennenlernen. Teilen Sie diese Ansicht?
Das gab es, wird aber immer besser. Heute ist das keine fundamentale Schwäche der Informatik mehr. Das Erfolgsgeheimnis von Microsoft, auch von Google, ist, dass diese Unternehmen vom Menschen zurückgedacht haben und auch daran gedacht haben: Es gibt nicht nur Genies, die Informatik mit sehr gut abgeschlossen haben, sondern einfach den berühmten „Mann“ bzw. die „Frau auf der Straße“.
Sie haben einen Artikel zum Thema Komplexität verfasst, mit Bissantz als Koautor. Ist Komplexität die Feindin des Fortschritts Nr. 1 geworden?
Feindin Nr. 1 ist schwierig zu sagen – aber eine große Gefahr. Wenn ich sehe, was die Automobilindustrie zurzeit entwickelt, dann, so sage ich manchmal spöttisch, wird es den normalen Fahrer gar nicht mehr geben, sondern er braucht wieder einen Chauffeur mit einem Universitätsabschluss in Informatik. Wenn irgendetwas kaputt ist, das haben wir heute schon, dann kommt die Frage: Mit was hängt das noch alles zusammen? So kann ich mir das Automobil der Zukunft nicht vorstellen. Ich glaube, man wird es übertreiben, dann den Höhepunkt der Mode sehen und wieder ins Tal klettern.
Sind lebenslange Neugier und das Fortschreiten ins Unbekannte ein Lebensideal für Sie?
Nein, das ist nicht nur Neugier, es ist auch ein Stück Pflicht. Wenn Sie mich fragen nach meiner persönlichen Philosophie, dann würde ich mit Kant antworten: Handle so, dass, wenn alle so handeln wie du, die Welt einigermaßen funktioniert.
Bissantz argwöhnt, dass Unternehmen mit der Größe zunehmend an Innovationskraft verlieren, und schätzt die Knappheit von Ressourcen als wichtiges Regulativ. Professor Peter Mertens, was halten Sie als Hochschullehrer der Betriebswirtschaftslehre davon?
Man kann nicht sagen, das kleine Unternehmen hat Vorteile und das große hat welche; meistens braucht es eine Kombination. Wenn wir das tragische aktuelle Beispiel nehmen: Die Initiative und das Engagement, die Tag- und Nachtarbeit bei Biontech hat den ersten Impfstoff hervorgebracht. Ein Kleinunternehmen. Aber das Unternehmen wäre überfordert, jetzt die ganze Bevölkerung mit der nötigen Logistik zu versorgen. Wenn man dann kooperiert mit Pfizer, die die Erfahrung haben, Arzneimittel in der Breite bis zu allen Apotheken zu bringen, dann ist das ideal.