Leben wir in einer Informationsgesellschaft? Ich glaube nicht. Informationen sind so knapp wie eh und je. Dafür bekommen wir soviel Desinformation, Lüge, Schlamperei wie nie zuvor.
Beispiele finden wir, egal wohin wir schauen. Manches ist systematisch und von höchster Stelle abgesegnet, manches beruht auf Unkenntnis, Zeitnot oder Ignoranz. Ein paar durchaus willkürliche Exempel, die die Bandbreite illustrieren:
“Hello, Captain Ibrahim”: Einer der Beweise (sic!) aus Colin Powells Präsentation vor der UN „Failing to disarm“
Politisch motivierte Lüge
Inzwischen ist es heraus: Ex-Außenminister Colin Powell, Ex-CIA-Chef George Tenet oder die Ex-Mitarbeiter von Tenet, irgendeiner oder alle logen wie gedruckt und am Ende stand Powell am 5. Februar 2003 vor den Vereinten Nationen und präsentierte auf 45 PowerPoint-Folien erfundene Beweise für die Existenz von Massenvernichtungswaffen in den Händen von Iraks Diktator Saddam Hussein. Angesichts der Banalität vieler Folien ist nicht zu glauben, dass ihn die Delegierten im UN-Sicherheitsrat nicht einfach ausgelacht haben.
Eilfertige Infografiker
In einer einzigen Ausgabe der Wirtschaftswoche fand ich drei Beispiele, in denen sehr großzügig mit Zeitachsen umgegangen wird. Jedes Mal wird damit darüber hinweggetäuscht, dass die vorhandenen Daten viel dünner sind, als es den Anschein hat. Davon abgesehen: Sind Konjunktiv oder Futur in Überschriften zu viel verlangt, wenn man lediglich zwei Prognosewerte aufzubieten hat?
Eigenwilliges Zeitraster: erst 10, dann 15 und schließlich 30 Jahre (Wirtschaftswoche 27/2008 vom 30.06.2008, S. 85).
So sehen die vier lückenhaften echten und zwei über einen Zeitraum von 42 Jahren gemutmaßten Daten bei seriöser Darstellung aus.
auto motor und sport, Heft 20/2007, S. 16
Publikumszeitschriften
In eigentlich jeder Zeitschrift, die ich aufschlage, finde ich Diagramme, die grausam verzerrt sind, weil Achsen abgeschnitten oder gestaucht sind. Schon mit bloßem Auge erkennt man: Der Balken für die Veränderung um 24 % in der Luxusklasse ist fast um die Hälfte zu kurz, der Balken für das Plus bei den Minis ist zu lang und der Pfeil ist ebenfalls übertrieben.
Wenn grafische Elemente nicht proportional zu den dargestellten Werten sind, verfehlt die Darstellung jeden Zweck. Macht nix. Sie werden dennoch gedruckt.
Mit Bildern wird nicht weniger gelogen als mit Diagrammen. Wenn ein Automagazin kommende Modelle präsentiert, geschieht das in aller Regel ohne jeden Hinweis darauf, dass es sich um Computergrafiken handelt, die breiter, niedriger und mit Fantasierädern ausgestattet sind und damit um Dimensionen schnittiger daherkommen als das spätere Original.
Links: So hat uns 2007 die “auto motor und sport” den neuen BMW 7er vorgestellt (Heft 25/2007, S. 27). Rechts: Die Realität ohne Computergrafik-Pimp (Heft 14/2008, S. 16)
Aufklärer
Auch diejenigen, die über Mängel in der Informationskultur aufklären wollen, schrecken vor Manipulation nicht immer zurück. Als die brand eins Beispiele für statistische Manipulationen anprangerte, zog sie die Regierung Mexikos kräftig durch den Kakao. Die Verbreiterung der Stadtautobahn von zunächst vier auf sechs und die anschließende Reduktion wieder auf vier Spuren hätte man netto als 17 % Kapazitätserweiterung gefeiert. Ich fand diese Geschichte höchst bemerkenswert und verfolgte sie zurück bis zur von brand eins benannten Quelle: einem Leserbrief an den Economist! Was die brand eins blumig daraus macht, ist lesenswert.
“Das Tollste daran aber ist nicht die Verve, mit der mexikanische Beamte – wie überall und so auch hier – mit Zahlen tricksen, tarnen und täuschen, sondern dass kaum jemand den rechnerischen Überschlag bemerkt hat. Erst Jahre später, die Welt
glaubte das mexikanische Autobahnwunder längst, rechnete ein Reporter des “Economist” nach – und staunte.” (brand eins 02/04, S. 57)
Ich unterstellte zunächst nur eine vergessene Quellenangabe, googelte reichlich und bat Freunde in Mexiko, dasselbe auf Spanisch zu tun. Fehlanzeige. Mexikanische Beamte mit Verve, ein Autobahnwunder oder eine Welt, die daran glaubt, fand ich nirgends.
Wir alle
Im Kleinen wie im Großen, von den Guten wie den Bösen: Information ist immer zweckgerichtet. Sie existiert nicht absichtslos. Und da wir alle begeistert, unterhalten, erfreut, motiviert, beliefert und versorgt werden wollen, akzeptieren wir wissentlich und unwissentlich Verzerrung, Beschönigung, Verkürzung, Vergröberung, Übertreibung.
Es ist daher sinnlos, die Produzenten der Desinformation anzugreifen, ohne die Nachfrage nach Desinformation durch die Konsumenten zu beleuchten. Ich finde: Erst müssen wir lernen zu erkennen, was Desinformation ausmacht, dann erkennen, dass sie uns überall umgibt, und dann sehen wir weiter.