Steuern die Softwarebranche und alle, die von Software abhängen, auf eine Komplexitätskrise zu? Mein Doktorvater hatte mich eingeladen, das mit ihm zu beleuchten. Pünktlich zum Jahresstart wurde das Papier fertig. Die Lage ist ernst. Das Papier gibt es hier. An dieser Stelle einige Anmerkungen aus Sicht des Business Intelligence dazu.
Ich habe mal wieder nachgedacht über Lücken, Tücken und Fehler in Software. Diesmal hatte mich mein Doktorvater darauf gebracht, Prof. Peter Mertens. Er hatte mich eingeladen, an seinem Arbeitspapier mitzuwirken: „Hänschenklein oder Mondscheinsonate: Geraten wir in eine Komplexitätskrise?“. Dafür hat er eine erstaunliche Menge an Beispielen gesammelt, wo es klemmt mit der Software – von kleinen Beispielen aus dem Alltag bis zu katastrophal gescheiterten Großprojekten mit erheblichen Schäden für Unternehmen und Volkswirtschaft. Man denke etwa an die softwarebedingten Produktionsausfälle der Goldbären von Haribo oder die Computerprobleme, die mehrfach die rechtzeitige Auszahlung staatlicher Corona-Hilfen an Branchen verhinderten, die um ihre Existenz bangen.
Mertens sagt: „Wir haben es mit wachsender Komplexität an mehreren Fronten gleichzeitig zu tun. Diese Komplexität gründet in sehr unterschiedlichen Entwicklungen, die die menschliche Gesellschaft sich mit neuen politischen, juristischen, wirtschaftlichen und technischen Trends weitgehend selbst schafft.“
Einfachheit verteidigen
Wie steht es damit, wenn ich mir als Business-Intelligence-Hersteller an die eigene Nase fasse? Externe Komplexität ist unser tägliches Brot, sowohl in der Entwicklung als auch im Projektgeschäft. Heterogene Datenbanken, unterschiedliche Dialekte von Abfragesprachen, Treiber, Softwarestände, Betriebssysteme, Office-Versionen, Webbrowser, Entwicklungsumgebungen, Authentifizierung und anderes mehr belegen viel Kapazität für Arbeiten, die Fleiß, Disziplin und Geduld verlangen, bevor man sich den dankbaren Themen zuwenden kann, in denen Kreativität, Erfindungsgeist und Innovation gefragt sind. Bei derart hoher gegebener Komplexität empfinde ich es als meine hochheilige Aufgabe, darüber zu wachen, dass eine einmal erreichte Vereinfachung nicht wieder ohne Not aufgegeben wird. Bedroht ist sie immer. Vereinfachung kommt von Beschränkung und Entscheidung. So sind viele Optionen Ausdruck davon, dass ein Entwickler sich nicht festlegen konnte oder wollte und die Entscheidung dem Anwender überlässt.
Komplexität opfern
Vor einigen Jahren konfrontierte ich Kollegen und Kunden mit der Feststellung, dass unser sogenannter Flexreport sterben und mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden muss (tatsächlich so und so emotional). Der Flexreport war gebaut, um „pixelgenau“ individuelle Berichtswünsche zu erfüllen. Unser „Flexit“, also ein Ausstieg aus dieser Produktkategorie, war angebracht, ansonsten hätten sich die bei den Kunden implementierten Lösungen auf Dauer in einer Weise individualisiert, die einer Innovierung durch neue Releasestände nicht mehr zugänglich gewesen wäre. Wir verloren im Zuge der Ablösung sogar einen geschätzten Mitarbeiter, der zurecht auf die Tricks stolz war, mit denen er jeden noch so speziellen Gestaltungswunsch zu erfüllen wusste. Auch mancher Bestandskunde zeigte sich zunächst skeptisch. Inzwischen ist die vermeintliche Revolution Geschichte, die Vereinfachungen haben sich durchgesetzt und werden geschätzt. Der Flexit war ein notwendiger technischer, organisatorischer und psychologischer Befreiungsschlag und lässt uns seitdem immer weitere Vereinfachungsschritte gehen. Die dabei entstehenden Friktionen können wir gut und gerne aushalten.
Vereinfachung wagen
Vereinfachung hat einen Preis. Es ist leichter, einen hohen Preis mit großem Funktionsumfang zu rechtfertigen als mit dem Argument, wie viel Mühe, Zeit und Aufwand in der Reduktion auf den geringeren, aber richtigeren, weil entlastenden Funktionsumfang stecken. Anwender und Einkäufer übersehen leicht, welche Kostenersparnis in der Konzentration aufs Wesentliche liegt. Sie lassen sich blenden von großen Funktionsumfängen und vergessen, wie wenig davon tatsächlich in der Praxis notwendig ist und genutzt wird. Komplexität schützt daher überhöhte Preise und Anbieter brauchen Mut und Durchsetzungsvermögen, wenn sie ihre Produkte vereinfachen wollen.
Vereinfachung ist nicht weglassen
Eine der Herausforderungen der Vereinfachung ist, dass man seine Kunden kaum danach fragen kann, obwohl man ihnen mit scharf konturierten Produkten den größten Dienst erweist. Die Summe aller vermeintlichen oder echten Kundenwünsche ist immer des Guten zu viel. Vereinfachung braucht Generalisierung und Abstraktion und damit auch einen gesunden Abstand. Beides findet sich nur in der Kombination aus viel praktischer Erfahrung und tiefer theoretischer Durchdringung des Anwendungsfeldes. Gleichzeitig ist – auch wenn die Anbieter anders von sich denken – Software eine junge und noch unterentwickelte Kulturtechnik im Umgang mit den Problemen der Welt und braucht immer wieder Grundlagenforschung.
Vereinfachung ist interdisziplinär
Die Mensch-Maschine-Schnittstelle erweist sich bei näherem Hinsehen als rätselhafter, als man denken würde. Für die Enträtselung fehlen der Informatik und Wirtschaftsinformatik naturgemäß die Werkzeuge. Deswegen investieren wir selbst viel in die Erforschung des Sehens und der Wahrnehmung. Eine derartige Forschung kann nur interdisziplinär sein und muss insbesondere die Erkenntnisse der Neurobiologie integrieren, die inzwischen auch der Kognitionspsychologie weit vorausgeeilt ist. Im sogenannten „User Experience Design“ sollte die menschliche Informationsverarbeitung das Maß der Dinge werden. Wir beobachten eine zu große Dominanz ästhetischer und gestalterischer Einflüsse und ein zu flaches Verständnis der Grenzen menschlicher Wahrnehmung.