Das haben wir letztes Jahr nicht mehr geschafft, aber noch versprochen: Der zweite Teil unseres Jahresrückblicks listet, was uns am meisten geärgert hat.
Immer noch schafft es das Marketing mitunter, sich gegenüber dem Controlling durchzusetzen und Zahlen oder ihre grafischen Repräsentanten in den Unternehmensfarben anzumalen. Manchmal wirkt das nur unbeholfen, manchmal hätte Karl Valentin seine Freude daran gehabt. Zum Beispiel, wenn in Investoreninformationen und Geschäftsberichten den Lesern zugemutet wird, dass auch noch die schwärzeste Zahl rot gefärbt wird, nur weil das Logo des Unternehmens rot ist. Begegnet ist uns das in Publikationen z. B. von E.ON, der Sparkasse und Vodafone. Ganz klar Platz 1.
Die FAZ hat ihren Kursteil zum 19.01.2009 verändert. Einiges musste weichen, anderes kam dazu. Neu ist seitdem eine Darstellung, die den Indexverlauf wichtiger Börsen in der zeitlichen Abfolge von 24 Stunden zeigt. Das ist interessant. Denn eigentlich ließe sich daran überprüfen, ob es danach aussieht, dass man in Frankfurt die Stimmung von Tokio und Hongkong aufnimmt und in New York die von Frankfurt. Aber eben nur eigentlich – weil die FAZ den Startpunkt jeder Zeitreihe auf den Eröffnungskurs des Index und nicht, wie man meinen sollte, auf den Vortageskurs normiert. Die Darstellung verliert damit ihren Reiz. Wir haben der FAZ unsere Bedenken im Juni 2009 mitgeteilt. Die Reaktion darauf und der Umstand, dass sich auch 2010 nichts verbessert, tragen ihr einen verdienten unrühmlichen zweiten Platz ein.
Stocks around the clock: Breakbeats statt Rock ‚n‘ roll. Quelle: FAZ, 25.09.2009.
Noch länger als die FAZ strapaziert die SZ unser um gute Visualisierung besorgtes Gemüt. Sie hat lobenswerterweise ihren Kursteil so um Balken ergänzt, dass daraus eine grafische Tabelle wurde und der Kursteil damit schneller lesbar. Aber: Die SZ schneidet alle Kursveränderungen über 5 % ab. Für das erste Halbjahr 2010 haben wir nachgezählt: Im Durchschnitt fanden Veränderungen größer 5 % an jedem dritten Tag statt. Platz 3.
Vortagesveränderungen von Aktienkursen in der Süddeutschen Zeitung, hier vom 23.10.2008. Schön: Es ist eine grafische Tabelle. Schwach: Bei 5 % ist Schluss mit den Balken.
Wissenschaftsjournale sind oft recht streng mit ihren Autoren. Wie diese aber ihre Daten visualisieren, scheint regelmäßig kein Kriterium zu sein. Besonders gerügt hat ein Kommentator ein Beispiel, das sich inhaltlich sogar um Visualisierung drehte, selbst aber keine Sünde ausließ.
Die unseres Erachtens grässlichsten Infografiken finden wir in der Zeit, deren Artikel wir hingegen gar nicht so grässlich finden. Eine Grafik von 2009 aus dieser auch 2010 fortgeführten Serie erklärt uns, wie Zeitung gemacht wird. Sie hat sich Platz 5 verdient.
Quelle: Die Zeit, 29.10.2009, Seite 37; auch hier zu besichtigen.
Etwas überraschend hat sich auch das neueste Excel in der Version 2010 einen Platz verdient, ohne dass wir nach neuen Sünden hätten suchen müssen. Eine sehr alte und besonders schlimme hat auch dieses Update unbeschadet überstanden: Wenn Werte eng zusammen liegen, schneidet der Diagrammassistent automatisch Säulen und Balken die Füße ab. Naturgemäß führt das die ganze Darstellung ad absurdum, weil dann die Längenunterschiede nicht mehr proportional zu den Wertunterschieden sind.
Auch in Excel 2010 heißt automatische Achsenskalierung: abschneiden.
Nach der Finanzkrise hatten wir hoffnungsfroh erwartet, dass allen Signalkonzepten, die komplexe, multidimensionale Sachverhalte wie Risiken und Kreditwürdigkeit auf banale Einwertigkeit verkürzen, der dünne Hals umgedreht wird. Stattdessen nahm das von uns verehrte Wall Street Journal seine herkömmliche Indextabelle von der Titelseite und walzt seitdem die Veränderungen der wichtigsten Finanzindikatoren schwer vergleichbar quer über den Seitenanfang und ersetzt mathematische Vorzeichen durch rote und grüne Dreiecke.
Unser Trost: Wer sehen will, wie prägnant Sprache sein kann, muss die Überschriften des Journal studieren. Selbst die New York Times erreicht nicht dieses Niveau und unter deutschen Zeitungen gelingt allenfalls der ansonsten menschenverachtenden und skrupellosen BILD ab und an eine Überschriftsperle.
Richtig genervt haben die auf vielen Online-Portalen zu findenden Bildershows. Eine Geschichte, die wir gerne als Ganzes würdigen würden, wird zerstückelt in kleine Häppchen; große Bilder ersetzen eine nuancenreiche, sprachliche Berichterstattung. Platz 8 für das Info-Staccato.
Die Referentenliste einer Veranstaltung von Hubert Burda in München wimmelte von Menschen aus dem Pixelland. Diese Kapitulation vor einem Medium, das sich selbst noch nicht versteht, finde ich unnötig. Eine Tageszeitung hat je Doppelseite einen halben Quadratmeter Platz, Großes zu tun. Ich habe mit mehreren Ressortleitern aus großen deutschen Blättern gesprochen: Überall spürt man eine große Angst, das Medium weiterzuentwickeln. Fixiert auf den Angstgegner Internet, verpassen viele die Möglichkeiten des eigenen Mediums. Platz 9 für den selbst angestimmten Abgesang auf das Papier.
Das schrecklichste aller neuen Infotainment-Formate ist die möglichst groß gedruckte Zahl, der ein deutlich kleinerer Text folgt, der uns die Zahl als einen meist völlig beliebigen Griff in die Kiste der Statistik präsentiert und aus dem wir etwa erfahren, dass 8 die Zahl der Fußballspieler ist, die Inter Mailand in einer Spelunke aufgelesen hat, bevor sie am nächsten Tag ein großes Spiel gewannen – oder so ähnlich.
Zum guten Schluss unseres Blicks auf 2010 seien Top‑ und Floplisten selbst bewertet: Eine Reihung macht neugierig und liest sich gut. Aber sie suggeriert Objektivität und Ordnung auch dort, wo Zufall oder Willkür ist. Auch 2011 werden wir Höhen und Tiefen in der Informationskultur erleben. Lassen wir uns überraschen.
Der erste Teil unseres Jahresrückblicks: hier.
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