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Weniger blicken lassen

Ist das Ende von „Dashboards“ da? Weil inhaltlich unverbundene Darstellungen zu komplex sind, angesichts der „Enge“ des menschlichen Bewusstseins? Weil wir buchstäblich nicht „durchblicken“ – also die Blickfolgen zu wirr werden? Was uns die Hirnforschung dazu sagt.

Professor Gerhard Roth, nach einer Erhebung der Zeitschrift Cicero Deutschlands bedeutendster Naturwissenschaftler und Hirnforscher an der Universität Bremen, hat ein Buch darüber geschrieben, wie schwer es ist, eigenes und fremdes Verhalten zu beeinflussen. Das und ein paar andere seiner Bücher habe ich gelesen und mich mit ihm unterhalten. Die zentrale Erkenntnis für mich: Denken ist teuer! Die bewusste Wahrnehmung ist ein notorischer Engpass – für das Verständnis betriebswirtschaftlicher Auswertungen benötigen wir aber besonders viel davon.

Quelle: Geise, Stephanie: Eyetracking in Communication and Media Studies - Theory, Method and Critical Reflection. In: Studies in Communication|Media o. Jg. (2011) 2, S. 149-263.
Controller müssen wie Werber denken: Werden alle wesentlichen Elemente einer Darstellung in der richtigen Reihenfolge aufgenommen? Und gelingt das so schnell, dass auch der erste Blick das wichtigste erzählt, wenn es keinen zweiten gibt? Quelle: Geise, Stephanie: Eyetracking in Communication and Media Studies – Theory, Method and Critical Reflection. In: Studies in Communication|Media o. Jg. (2011) 2, S. 149-263.

Enge des Bewusstseins
Das Arbeitsgedächtnis ist derart begrenzt, dass gerade einmal vier „items“ gleichzeitig hineinpassen. Beim fünften Gedanken beginnen wir den ersten zu vergessen. Durch Übung können die „items“ komplexer und umfänglicher werden, mehr werden es nicht. Dabei strengt sich das Gehirn gewaltig an. Es verbraucht mehr Zucker und Sauerstoff als das Herz und zehn Mal soviel Energie wie andere Organe ähnlicher Größe. Volle Konzentration lässt sich etwa 3-5 Minuten aufrecht erhalten, dann ist eine Pause nötig von 15-30 Sekunden, um die Leistungsfähigkeit wieder herzustellen. Kein Wunder also, dass das Gehirn sich verhält wie ein sparsamer Kaufmann. Es sucht nach Komplexitätsreduktion, Vereinfachung, Entlastung, wo es geht.

Controllingberichte sind teuer
Rechnen wir einmal nach: Wie komplex ist Controlling – gemessen in Denkschritten? Stellen wir uns dazu das Monatsreporting für ein typisches Leitungs- und Kontrollgremium wie Geschäftsführung, Vorstand, Aufsichtsrat vor. Üblicherweise steht im Zentrum eine Bruttogewinnrechnung mit, sagen wir, den vier Positionen Umsatz, Kosten, DB und EBIT. Man wird daran interessiert sein, die Zahlen dafür in den drei Perspektiven Monatswert, Vorjahreswert und Planwert zu betrachten. Vereinfachen lässt sich das durch den Blick auf die relativen Abweichungen dazu. Die wiederum interessieren uns aber sowohl für den aktuellen Monat und kumuliert. Wir betrachten jeden Wert einzeln und im Vergleich: Entspricht die aktuelle Abweichung der kumulierten, ist sie größer oder kleiner? Das Minimum des gedanklichen Aufwands dafür sind 24 Denkschritte.

Sparklines: ein billiges Vergnügen
Man wird sich nicht mit dem aggregierten Ergebnis zufriedengeben, sondern im selben Bericht die Zahlen für die wichtigsten Segmente des Unternehmens ergänzen. Es wird die regelmäßigen Leser dieses Blogs nicht erstaunen, wenn wir zudem einfordern, dass jeder aktuelle Monatswert mit Sparklines für die zurückliegenden 12 Perioden zu ergänzen ist. Ihre Würdigung veranschlagen wir mit zusätzlichen 4 bis 8 Denkschritten, um die Zeitmuster für sich und teilweise im Vergleich zu denen der anderen Kennzahlen zu begutachten. Man sieht: Sparklines sind vergleichsweise kostengünstig; mit einem Blick lässt sich hier ein Muster erfassen, das 13 Zahlenwerte geformt haben.

Eyetracking Do-it-yourself
Eyetracking Do-it-yourself: Schon mit Selbstbeobachtung lässt sich erkennen, ob Blickfolgen günstig sind oder nicht.

160
Donnerwetter! Alles in allem kommen wir auf 160 Denkschritte schon für die Durchdringung der wichtigsten Monatszahlen. Man darf davon ausgehen, dass man weitere Disaggregationen zum Beispiel in die wesentlichen Vertriebsregionen und Organisationseinheiten, vielleicht auch Produktsparten regelmäßig kontrolliert. Auch die Quartalssicht spielt für viele Unternehmen eine Rolle – was wird demnächst an Aktionäre und Analysten zu berichten sein? Dann sind Variationen der Bruttogewinnrechnung zu betrachten, zum Beispiel die Entwicklung des EBIT in Prozent vom Umsatz. Besonders spannend: die Hochrechnung der bisherigen Entwicklung aufs Jahresende.

Lieber auf einer Seite etwas einseitig bleiben
Nochmal Donnerwetter: Wir haben weiter mitgezählt und sind jetzt bei 600 Denkschritten. Angesichts der Erkenntnis der Hirnforschung, dass es uns schwerfällt, mehr als vier Gedanken gleichzeitig im Arbeitsgedächtnis zu halten, ist das eine anspruchsvolle Aufgabe, die fast nicht zu bewältigen scheint. Jedoch hat ein Großteil der gedanklichen Schritte, die wir ausgezählt haben, Wiederholcharakter. Sie beruhen allesamt auf einem Vergleich: Eine aktuelle Größe wird einer als Benchmark dienenden Größe gegenübergestellt. Und pro Berichtsseite bleibt man im selben Thema. Das führt dazu, dass sich immer mit einer Erkenntnis umblättern lässt, die mit in die Lektüre des nächsten Berichtes genommen wird. So könnte der Einstiegsbericht gezeigt haben, dass der Umsatz wächst – die Kosten tun das aber leider auch, und zwar überproportional. In den Segmenten ist das Phänomen unterschiedlich gewichtet, aber getrieben vom größten Segment schlägt es bis nach oben durch. Auf der nächsten Berichtsseite sieht man, ob sich das schon im Quartalsergebnis niederschlägt und man besser mit Investor Relations spricht. Auf der übernächsten Seite findet sich die Hochrechnung aufs Jahresendergebnis.

Datendichte versus Blickfolge
Es gibt zahllose Varianten, die nötigen Denkschritte in Berichten abzubilden. Man kann versuchen, das Zahlenmaterial für möglichst viele davon auf einer Seite unterzubringen. Immerhin wäre es eine Entlastung, nicht hin- und herblättern zu müssen. Und Datendichte ist ein von uns hoch geschätzter Wert. Jedoch kehren sich die Vorteile von Datendichte entlang einer U-Funktion um, wenn die zur Zahlenwürdigung nötige Blickfolge so kompliziert wird, dass sie schwer erlernt werden kann. Die Informationsaufnahme pro Blick nimmt mit steigender Datendichte also zunächst zu und dann wieder ab, wenn das Auge beginnt, hin- und herzuspringen anstatt das Informationsangebot linear (zum Beispiel spaltenweise) abzuarbeiten.

Richtung wechsel Dich nicht
Die Blickfolge verheddert sich buchstäblich, wenn sich die Leserichtung auf derselben Seite ändert, zum Beispiel wenn in einem „Dashboard“ Monate in den Spalten und Quartale in den Zeilen abgetragen werden. Das gleiche passiert, wenn sich Teile eines DB-Schemas mal in Spalten, mal in Zeilen wiederfinden. Schon der mehrfache Wechsel des Themas auf derselben Seite bereitet Schwierigkeiten: Was ist wichtiger? Der EBIT in Prozent oder absolut, seine Veränderung gegenüber dem Vorjahresmonat oder dem Vorquartal? Die Kosten in Relation zum Umsatz? Für den Konzern oder die Länder? Was ist mit der Prozentpunktveränderung des EBIT in Prozent vom Umsatz? Mit solchen Gedankenfolgen geht jeder Überblick verloren. Schlimmer noch: Die ohnehin große Anzahl der notwendigen gedanklichen Schritte verliert jede Priorität und Folge.

Was folgern wir daraus? Die Controllingaufgabe muss in Themen gegliedert sein. Ein Thema pro Berichtsseite ist genug. Auf dieser Seite aber muss das Thema erschöpfend behandelt werden. Die Blickfolge soll dem gedanklichen Ablauf entsprechen, so linear wie möglich und so kurz wie möglich. Mitmenschen erfassen wir mit einer Blickfolge in der Senkrechten, von oben nach unten. Die horizontalen Augenbewegungen dabei sind minimal. Wenn wir den wesentlichen Inhalt einer Berichtsseite ebenso aufnehmen, sind wir mit der Gestaltung auf dem richtigen Weg.

Nicolas Bissantz

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