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Ivy League Rock and Roll – ein Tag bei Edward Tufte

Rund vierzig Mal im Jahr strömen bis zu fünfhundert Menschen in die Seminare des weltweit renommiertesten Visualisierungsexperten und Yale-Emeritus Edward Tufte – und erleben eine Show.

Crystal Forum, Washington D. C., 9:20 Uhr: Vier freundliche junge Damen und Herren streichen Namen aus Teilnehmerlisten und wuchten schwere Faltschachteln mit Henkeln über den Tisch. Sie enthalten die vier Bücher von Edward Tufte, The Visual Display of Quantitative Information (1983), Envisioning Information (1990), Visual Explanations (1997) und Beautiful Evidence (2006). Sie sind zu hohen Stapeln aufgetürmt. Fünfhundert Teilnehmer werden erwartet.

Wer schon da ist, holt sich einen Pappbecher Kaffee und sucht sich einen Platz im glanzvoll erleuchteten Saal des Crystal Forum. Im linken Gang zwischen den Stuhlreihen hat sich eine lange Schlange vor einem kleinen Tisch gebildet. Edward Tufte hat Sprechstunde, „Office Hours“, wie er sie nennt. Er signiert Bücher, fragt höflich nach dem Namen der Teilnehmer und was sie hierher geführt hat. Er gibt Hinweise, welche Kapitel aus seinen Büchern am besten zu ihren Fragen passen.

Alle anderen haben ihre Hausaufgaben bereits. Zusammen mit Tuftes Büchern bekommt jeder Teilnehmer ein Blatt, das unter anderem die Passagen listet, die jeder als „Warm-up“ vor Beginn des Seminars lesen sollte – und das damit zum ersten von vielen weiteren Malen eines der Prinzipien demonstriert, die sich jedem Teilnehmer heute Abend für immer eingebrannt haben werden. Selbst wenn Tufte sich als Berater namhafter Unternehmen wie IBM, Lotus und HP und anderen immer wieder auch um gute Bildschirmdarstellungen bemüht hat, ist er zutiefst davon überzeugt, dass ein einziges Blatt Papier immer einen größeren bleibenden Eindruck hinterlassen und mehr zum Nachdenken anregen wird.

Inzwischen hat sich der Saal gefüllt und beginnt vor erwartungsvoller Spannung zu vibrieren. Tuftes Seminare sind legendär. Wenn man professionell mit Daten und Visualisierung zu tun hat, kennt man seine Bücher oder man gehört einfach nicht dazu. Heute, ins Crystal Forum in Washington sind viele Mitarbeiter der reichlich in der Stadt vorhandenen Regierungsorganisationen, des Pentagon und anderer militärischer Einrichtungen gekommen. Viele Studenten sind da, aus Fachrichtungen wie Informatik, Grafikdesign, Ökonomie, Biologie und Medizin. Manche haben Laptops auf den Knien und werden große Teile dessen, was Tufte zu sagen hat, protokollieren, um es zu Hause noch einmal auf sich wirken zu lassen.

Für einen bestimmten Kreis intellektuell tätiger Menschen haben die Seminare den Charakter eines Initiationsritus angenommen. Tufte, der „da Vinci der Daten“, ist so weit von jedem Zweiten in seinem Bereich entfernt, dass Zweite nicht mehr wirklich zählen. Erfolgreiche Börsianer, Visionäre, die kreativen Stars der Agenturen, die Bosse der großen amerikanischen Konzerne, Bill Gates, die Dilberts dieser Welt, sie alle kennen Tufte und haben seine Bücher im Regal. Der durchschnittliche „Kindly Contributor“, wie Tufte diejenigen respektvoll nennt, die an seinem Diskussionsforum im Internet teilnehmen, hat einen Doktorgrad in Biologie.

Auch die, die ihn nicht kennen, kennen ihn aufgrund dessen, was er bewirkt. Hinter jeder klar gestalteten Website, auf den Seiten jedes niveauvollen Magazins, jeder Zeitung in den USA, in Broschüren, Zugfahrplänen, Krankenhausrechnungen sind seine Gestaltungsprinzipien erkennbar.

Seine Ausnahmestellung im Information Design hat Tufte in mehr als dreißig Jahren in den Hörsälen an Amerikas Elitehochschulen Princeton und Yale kultiviert, wo er Statistik und Politische Wissenschaften gelehrt hat. In jedes seiner vier Standardwerke hat er sieben Jahre und mehr investiert. Er ist unerreicht darin, den Sinn hinter Daten zu erkennen und darzustellen, in einer Zeit, in der die Informationstechnologie dafür sorgt, dass wir in immer mehr Zahlen immer weniger Sinn finden und Desinformation und Falschinformation permanent Hochkonjunktur haben.

In seiner Zeit als Hochschullehrer, die er 57-jährig hinter sich ließ, sammelte Tufte nicht nur beeindruckende Mengen an Information über Informationsdesign, sondern er entdeckte auch sein besonderes Talent, seine Erkenntnisse zu vermitteln. Wie ein Rockmusiker nennt er seine Auftritte „Gigs“, wird er später an diesem Tag erzählen, nach fast sieben Stunden Vortrag, mit einem eiskalten Corona-Bier in der inzwischen leeren Halle in der Hand. Seine Assistenten, die dafür gesorgt haben, dass das Bier die richtige Temperatur hat, sind „Roadies“, und im Augenblick sind sie miteinander auf „Tour“. Und was sie zusammen in Washington an drei aufeinander folgenden Tagen auf die Beine stellen, ist meilenweit vom Charakter einer Vorlesung entfernt.

Sparklines Die eigentliche Show besteht darin, dass auf jeden vordergründigen Effekt verzichtet wird. Die Show ist der Inhalt, den Tufte klar, präzise und schnörkellos vermittelt. Nur zweimal in beinahe sieben Stunden Vortrag wird ein Projektor für zwei kurze Filme angeschaltet und das Licht im Saal gedämpft. Was Tufte zu zeigen hat, zeigt er in der höchstmöglichen Auflösung: auf Papier. In den meisten Fällen bittet er die Teilnehmer, eines der vier Bücher zur Hand zu nehmen und eine bestimmte Seite aufzuschlagen, dann diskutiert er eine der Illustrationen, die er überall auf der Welt zusammengetragen hat und die eine Zeitspanne von mehreren hundert Jahren abdecken.

Von Zeit zu Zeit nimmt er ein Ehrfurcht einflößendes Original von Galileo Galilei oder eine hunderte Jahre alte Fassung der Euklid’schen Schriften beinahe zärtlich in die Hand und macht sich auf den Weg zwischen die Reihen. Später wird einer der Assistenten noch einmal durch den Saal gehen und eines der wertvollen Bücher herumzeigen. Dabei wird er weiße Handschuhe tragen. Die Handschuhe sind ein wohl kalkuliertes Signal, das seit einigen Jahren zum Standard jedes Kurses gehört. Es signalisiert, dass die Bitte, das Buch einmal selbst in den Händen halten zu wollen, zwecklos ist.

Die weißen Handschuhe gehören zu einer ganzen Reihe subtiler Elemente der Show. Die Autogrammstunden heißen mit Absicht „Office Hours“. Tufte zeigt, dass er trotz der Verehrung, die seiner Person entgegen gebracht wird, auf dem Teppich bleiben will. Seine Assistenten wiederum sorgen trotz der Nähe, die Tufte zu seinem Publikum hat, durch ihre Präsenz für das richtige Maß an Distanz. Dass man sich nicht auf Hoteltechniker verlässt, wenn es um die Beschallung der Vortragssäle geht, sondern eigene Soundtechnik mitbringt, gehört auch dazu.

Dass Tufte dem Universitätsbetrieb früh den Rücken gekehrt hat und nun jedes Jahr viele Tage auf Tour ist, hat er nie bereut. Später beim Abendessen wird klar, warum. Die Freigeistigkeit, mit der er seine Mission vorantreibt und die an den großen Richard Feynman erinnert, braucht viel Raum um sich. Als er daran ging, sein erstes großes Buch zu verlegen, kam der herkömmliche Weg nicht lange für ihn infrage. Herausgeber reagierten entsetzt darauf, dass er als Autor auch über das Design des Buches entscheiden wollte. Tufte nahm eine Hypothek auf sein Haus auf, suchte sich eine große Garage und hat seitdem alle seine Bücher selbst verlegt. “My view on self-publishing was to go all out, to make the best and most elegant and wonderful book possible, without compromise. Otherwise, why do it?“

Tuftes Prinzipien beruhen auf großen Vorbildern, aber wenige seiner beeindruckenden Beispiele sind aus der Gegenwart. Wenn er über Galileo Galilei, Leonardo da Vinci und Issac Newton spricht, wird klar, dass es ihm um sehr grundlegende Prinzipien geht, die die Jahrhunderte überdauert haben und überdauern werden. Mit den Errungenschaften der Neuzeit, mit Computertechnik und Grafikprogrammen hat all das nur wenig zu tun. Zu oft stehen sie gerade überzeugenden Darstellungen im Weg, weil sie schlechte Auflösung, dekorativen Firlefanz und schlampiges Design befördern.

Anhand einer Grafik, die ohne jede Software entstand, macht Tufte seine Prinzipien deutlich. Die multidimensionale Darstellung von Napoleons Marsch auf Moskau, die Charles Joseph Minard im Jahr 1869 erstellte, enthält sie alle.

Die beste Grafik der Welt: Diese Darstellung von Charles Joseph Minard, sagt Edward Tufte, ist die vielleicht wirksamste grafische Illustration, die je erstellt wurde. Sie zeigt die Verluste, die Napoleons Armee während der Invasion von Russland 1812 hinnehmen musste. Beginnend auf der linken Seite mit einer Armee von Armee von 442.000 Mann zeigt die Grafik den Marsch auf Moskau. Die schwarze Linie, die sich von rechts nach links bewegt, steht für den Rückzug und die damit verbundenen grauenhaften Verluste. „Minards Darstellung erzählt eine reiche, zusammenhängende Geschichte“, sagt Tufte

Tufte beschreibt sein Lebenswerk als den Versuch, visuellem Flachland zu entfliehen („Escaping Flatland“). Die Welt, die wir zu verstehen suchen, ist auf unbekümmerte Weise multivariat, kompliziert, aufregend und nicht zweidimensional. Unsere Darstellungen aber sind auf die Zweidimensionalität von Bildschirm und Papier angewiesen. Einen eher unbeholfenen Ausbruch stellen 3D-Modelle dar. Tufte zieht sein Exemplar von Euklids Geometrie von 1570 hervor. Es gehörte einstmals dem Dramatiker und Shakespeare-Zeitgenossen Ben Jonson. Festkörpergeometrie wird darin mithilfe eines Faltmodells visualisiert. Die drei Seiten eines Dreiecks lassen sich aus dem Buch ausklappen und zu einer Pyramide in 3D aufstellen. Dieselbe Pyramide hat Tufte in sein Werk Envisioning Information integriert. Von dieser Technik macht er immer wieder reichlich Gebrauch, vor allem in Visual Explanations, und verschafft seinen Lesern damit lehrreiche Einblicke.

Die einzige andere Variante, Flachland zu entkommen, ist, über visuelle Darstellungen sehr, sehr gründlich nachzudenken. Das wird Tufte nun über fast sieben Stunden vorexerzieren. Er nimmt das Crystal Forum mit auf eine Tour de Force durch das, was er in einem langen Leben an Wissen über analytisches Design erarbeitet hat.

Seine Prinzipien guter Visualisierung wird er dabei selbst akribisch befolgen. Was seine Zuhörer an diesem Tag nach Hause nehmen, ist sehr unterschiedlich. Ich war sehr bewegt von einem großen Mann.

Nicolas Bissantz

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