Vor manchen Controllingberichten steht man wie vor Fotografien und Gemälden, in denen das Hauptmotiv fehlt: Im „all over“ sind alle Bildelemente gleichwertig. Wo also ist die Botschaft? Über das Punctum und wie man es herstellt.
Zum Geburtstag bekam ich ein Buch über den Fotografen Andreas Gursky: „Die Konstitution der Dinge“ von Eva Witzel. Ich blätterte es durch. Kein einziges Bild! Etwas verhalten fing ich zu lesen an. Von Gurskys erhöhtem Betrachterstandpunkt war in klugen Sätzen die Rede, von horizontaler Ordnung und vertikalen Akzenten. Das klang dissertationsreif. Ergebnis jahrelanger Arbeit am eingegrenzten Gegenstand. In der Tat, Witzels Buch ist ihre Dissertationsschrift.
In diesem Bericht ist das Punctum glasklar: € 4,80 s’il vous plaît, Monsieur.
Ich blätterte weiter. An anderer Stelle ein Zitat von Bertolt Brecht von 1931: „Die Lage wird dadurch so kompliziert, dass weniger denn je eine einfache ‚Wiedergabe der Realität’ etwas über die Realität aussagt.“ (Seite 166). Wieder an anderer Stelle ging es um das punctum. Bilder, deren Elemente allesamt gleichwertig sind, lassen nicht mehr erkennen, warum die gezeigte Situation abbildungswert ist. Das Bild wirkt leer. Es schickt den Betrachter auf die Suche. Mit etwas Glück taucht dann im neutralen studium das punctum unerwartet auf. Emotional, irritierend, animierend – zur Analyse über das Gesehene hinaus.
Wenn das keine Controllingthemen waren! Den geeigneten Betrachterstandpunkt haben wir schon als eine wesentliche Frage des Berichtens und Steuerns vereinnahmt. Die Wiedergabe der Realität so, dass sie etwas aussagt, ist eine Kurzbeschreibung für die bisweilen undankbare Aufgabe des Controllings insgesamt. Und das Punctum suchen wir in der Analyse und zeigen es im Bericht. Bechtle-Aufsichtsrat Uli Drautz beschrieb das Punctum auf unserem Executive-Forum in Berlin so: „Aha. Punkt. Habe verstanden. Handle!“ Sein Satz selbst das Punctum seines Vortrags.
Kürzer bringt man das Punctum nicht auf den Punkt: Aufsichtsrat Uli Drautz über handlungsorientiertes Berichten.
Action Title
Strategieberatungen warten nicht auf das Punctum. Sie stellen es ihren Berichten voran. Ein „Action Title“ betitelt, wie die Daten zu interpretieren sind, und nach Möglichkeit, was zu tun ist. Ein Controlling so selbstbewusst wie die Charts von McKinsey und Roland Berger, das wär doch was. Wer es kann, der macht es so.
Die Abweichler der amerikanischen Untersuchungskommission zur Finanzkrise – die Herren Thomas, Hennessey und Holtz-Eakin – machten es. Ihre Grafik haben wir schon einmal zitiert. Sie illustrierte diese Feststellung:
The existence of housing bubbles in a number of large countries, each with vastly different systems of housing finance, severely undercuts the thesis that the housing bubble was a phenomenon driven solely by the U.S. government.
Wer es sich zutraut, tut es: (unter)titeln, wie etwas zu verstehen ist.
Grafische Normierung
Noch eindrücklicher ist es, wenn Grafik ohne Text zum Punctum wird. Das gelingt mit grafischer Normierung. Wenn sie Ist- und Normwert gleichzeitig abbildet, erklärt sich eine Grafik selbst. Um Vergleichs- und Normwerte muss man nicht verlegen sein. Als Norm können Durchschnitt, Vergangenheit, Plan, Soll, statistische Erwartung, vergleichbare Organisationseinheiten, Produkte, Wettbewerber dienen. Die Grafik der Abweichler haben wir mit dem Durchschnitt normiert. Wir finden, sie wird damit noch besser.
Grafische Normierung für analytisches Punctum: je näher, desto gleich!
In der täglichen Controllerarbeit ist das Abweichungsdiagramm das gängige Punctum. Die vertikale Linie symbolisiert die gewählte Norm von Plan- oder Vorjahreswert. Ist der Plan die Norm, dann wünschen wir uns wenig horizontale Unordnung und vor allem vertikale Akzente – um es mit Witzel zu sagen.
Grafische Normierung für agitierendes Punctum: je roter, desto handle!
Für mein Geburtstagsgeschenk habe ich mich artig bedankt und es seitdem öfter in die Hand genommen. Passend zur jeweiligen Buchpassage habe ich Gurskys Bilder im Internet gesucht. Bei dieser Gelegenheit stieß ich auf dieses Zitat von ihm: “Meine Bilder sind immer von zwei Seiten komponiert. Sie sind aus extremer Nahsicht bis ins kleinste Detail lesbar. Aus der Distanz werden sie zu Megazeichen.” Im Controlling kommen wir ohne “mega” aus. Punctum aus der Distanz, ursächliches Detail aus der Nahsicht. Ein schönes Vorbild. Gutes Controlling ist eben doch eine Kunst. Punctum.